Ausrangierte Szenen aus »Die Erinnerung riecht nach gelben Kamelien«

 

 

In dem Blogartikel »Die Entstehung des Romans« habe ich davon berichtet, warum ich diesen Roman umgeschrieben habe. Bei diesem Prozess mussten viele Szenen aus der Sicht von Erwin weichen. Um sie euch dennoch zugänglich zu machen, habe ich ein paar kurze Sequenzen ausgewählt und werde sie euch hier präsentieren.

 

Diese Szenen haben nie ein Lektorat gesehen, daher biete ich sie euch in einer Rohform an und damit einen ungeschminkten Einblick in meine Arbeit.

 

 

Noch ein Hinweis: Falls ihr den Roman noch nicht gelesen habt und es noch tun wollt, empfehle ich euch, diesen Blogartikel erst später zu lesen. ACHTUNG SPOILER!

 


 

Szene 1:


Erwin band sich den Schal um Kopf und Hals. Die bittere Kälte fraß sich in seine Knochen und nahm Besitz von ihm, so dass er zitterte. Adolf rutschte in den Schützengraben und warf ihm eine Decke zu. »Hier!«
»Wo hast du die denn aufgetrieben?«, fragte Erwin erfreut und schlang sich darin ein. Vielleicht würde er heute Nacht wenigstens ein bisschen Schlaf finden. Sein Freund nahm einen großen Schluck aus der Glasflasche und reichte sie ihm. Der Wodka rann warm seine Kehle hinab und wärmte ihn von innen. Er trank nie so viel wie sein Freund, auch wenn er sich oft danach sehnte, seine Erinnerungen zu ertränken. Adolf hatte sich auf dem letzten Bauernhof, den sie passiert und in Brand gesteckt hatten, mit mehreren Flaschen eingedeckt und war nun wieder großzügig.
Erwin zog eine Ecke der Plane beiseite, die sie über den Graben gespannt hatten, und blickte in den wolkenlosen Himmel, an dem die Sterne glitzerten. Konnte Frida die gleichen Sternenkonstellationen am Firmament beobachten oder hatte sie wegen des Verdunklungszwangs schon lange nicht mehr den Kopf nach oben gewandt? Wie fremd war ihm das Leben in Berlin geworden, wie weit entfernt die Erinnerung an ein Leben ohne Blut und Gewalt. Er zog das Foto aus der Brusttasche und betrachtete seine Verlobte im Schein der Petroleumlampe. Eine Ecke war abgerissen, ein Knick ging quer durch ihr Gesicht. Er strich über ihre Wange und ihre Haare. Er sehnte sich danach, sie wieder zu berühren und hoffte, dass der Krieg bald ein Ende haben würde. Doch ein Sieg gegen die Russen war in weite Ferne gerückt.

 

Szene 2:

 

Das Rattern des MG-Feuers verstummte. »Weiter!«, schrie ihr Zugführer. Erwin blieb noch ein paar Sekunden regungslos liegen, dann folgte er seinen Kameraden. Von einer kleinen Anhöhe konnten sie den Bauernhof sehen. Der durchdringende Lärm ging von Neuem los. Schüsse, Schreie, jemand rief nach einem Sanitäter. Erwin lugte über die Kuppe und sah Bruno Ecker neben einem Heuballen liegen. Mit ihm hatte er vorgestern über ihre gemeinsame Heimat #Ostpreußen gesprochen. Bruno hob die Hand, im nächsten Moment traf ihn ein weiterer Schuss und die Schreie verstummten. Was sollten sie in diesem irrsinnigen Kampf, wofür lohnte es sich, so qualvoll zu krepieren? Wie hatte er so begeistert für die Partei stimmen können? Wie hatte Frida ihn beschimpft, als er in die Partei eingetreten war.
Zwei Kameraden stürmten zum Haus, während die anderen ihnen Feuerschutz boten. Als die beiden es bis Bauernhaus geschafft hatten, warfen sie Handgranaten hinein. Danach stürmten sie das Haus.
»Sprung auf! Marsch, marsch«, rief jemand. Erwin folgte seinem Zug und suchte die Umgebung nach Kameraden ab. Neben dem Heuballen lag Bruno, seine Uniform war blutdurchtränkt. Erwin kniete sich neben ihn und fühlte nach dem Puls, doch da war nichts mehr. Er schloss ihm die Lider und drückte seine Hand, wie er es bei jedem Kameraden machte, den er in eine andere Welt verabschieden musste.
Er wandte sich ab und rannte zum Bauernhaus. Fünf Rotarmisten lagen in der Küche regungslos auf dem Boden, drei weitere in einem Schlafraum. Seine Kameraden bedienten sich an den wenigen Vorräten. Die Bäuerin schrie verzweifelt.
Draußen aßen sie Brot mit Brombeerkonfitüre, Obst und Wurzelgemüse.
»Fünf Minuten«, rief Wehrmeyer.
Erwin nestelte die Fotokamera aus dem Beutel und schoss zwei Fotos. Die Kameraden lächelten wohlwollend in die Linse.
»Schon lange nicht mehr so gut gegessen«, sagte Adolf und ließ sich auf der Ladefläche eines Leiterwagens nieder.
Ein Schuss pfiff durch die Luft. Im nächsten Moment kippte Adolf zur Seite.
Nein, wollte Erwin schreien, doch aus seiner Kehle drang kein Laut. Er war wie gelähmt. Doch nicht Adolf!

 

Szene 3:

 

„Sprung auf! Marsch! Marsch!«, rief Wehrmeyer. Achtzig Soldaten sprangen aus den Deckungen und stürmten auf das Dorf zu. Einige schrien laut und riefen »Hurra«. Während sie auf die ersten Häuserreihen zurannten, gerieten sie in ein wildes Feuergefecht. Erwin lief geduckt, hörte die Geschosse an sich vorbeisurren. Ein Kamerad neben ihm schrie auf und fiel zu Boden. Erwin kniete sich zu ihm und presste die Hand auf seinen Bauch. Der Mann würgte, Blut quoll aus seinem Mund. Die Kugel musste seine Lunge durchbohrt haben. Seine Augen zuckten unruhig hin und her, flehten ihn wortlos um Hilfe an. Erwin sah ihn aufmunternd an, ein Lächeln für die letzten Lebenssekunden. Es war ein kurzer Todeskampf. Erwin schloss dem toten Kameraden die Augen, drückte ihm die Hand und rannte weiter. Das laute Knallen der Karabiner 98 dröhnte in seinen Ohren. Die Reetdächer der ersten Häuser brannten und beißender Rauch legte sich auf seine Zunge. Ein verängstigter Junge verschwand in einem Schuppen, durch dessen Tür ein paar Augenblicke später ein Kamerad eine Granate warf. Eine laute Explosion folgte. Geduckt lief Erwin über die Straße und lugte in den Schuppen. Er brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnten. Der Anblick ließ ihm sein Herz schwer werden. Ein Junge, ein Mädchen und ein Hund. Ihre Körper waren seltsam verrenkt und aus ihren Augen sprach der Tod. Erwin stützte sich an dem Türbalken ab. Wann nahm das Töten endlich ein Ende? Erwin schob die Tür weiter auf, um Licht hereinzulassen, und holte die Kamera aus seinem Beutel. Er zögerte, als er den Sucher vor sein Auge hielt. Hatte er das Recht dazu, ein Foto von diesen beiden Kindern zu schießen?
Erwin drückte auf den Auslöser und brannte das erste Mal den Anblick des Todes auf seine Filmrolle.

 

Szene 4:

 

Sie konnten das Dorf ohne Feindkontakt verlassen, mussten über ein freies Feld und gelangten in einen Wald. Es war ungewöhnlich still, nicht einmal Vogelgezwitscher ertönte. Es war als hielten alle Waldbewohner die Luft an. »Sollten wir nicht ...«, flüsterte er Fritz zu. In dem Moment pfiff der erste Schuss durch die Luft. Jemand schrie auf, alle stürzten zu Boden, suchten Deckung.
»Scheiße« Fritz sprang zu Erwin hinter einen umgefallenen Baum und rückte den Helm zurecht. »Wir hätten zurückgehen sollen.«
Das feindliche Maschinengewehr ratterte, traf Bäume, Rinde splitterte ab, traf Erwin im Gesicht. Er schloss die Lider, um die Augen zu schützen. »Und jetzt?«
Fritz legte sich in Position und zielte mit seinem Karabiner. »Gnade uns Gott, das sind zu viele.« Er schoss, lud nach und schoss erneut.
Erwin presste sich gegen die Erde, Patronen sausten nur ein paar Zentimeter über ihre Köpfe hinweg. Fritz gab den Kameraden ein Zeichen, dann begann das MG-Feuer.
»Rückzug«, schrie der Stabsgefreite.
»Los!«, rief Fritz und zog Erwin mit sich.
Erwin rannte so schnell er konnte, schlug Hacken, sprang über Wurzeln und Sträucher. Plötzlich spürte er einen Schlag gegen seinen Oberschenkel. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand mit voller Wucht gegen das Bein getreten. Er hatte so viel Schwung drauf, dass er nach vorne fiel, sich überschlug, wobei der Schmerz explodierte. Er landete flach auf dem Rücken und keuchte. Am liebsten hätte er nach einem Sanitäter gerufen, so wie es seine Kameraden taten. Du bist hier der Sanitäter. Hilf dir selbst. Er sah an sich herunter. Die Uniformhose tränkte sich mit Blut. Vorne hatte das Einschussloch die Größe eines Teelöffels, auf der Rückseite war es viermal so groß. Das Geschoss hatte ihm den Muskel zerfetzt. Fritz sprang zu ihm und betrachtete die Verwundung. »Scheiße!«, fluchte er. Er zog Erwin bis zu einem Busch. »Grab dich ein. Wir kommen zurück und retten dich.«

Die Russen stürmten an Erwin vorbei. Er blieb regungslos liegen, wartete darauf, dass jemand zurückkam und ihm den Gnadenstoß verpasste, doch es blieb still. Dann richtete er sich auf und betrachtete die Verwundung. Er holte Kompressen aus der Sanitätstasche und verband die Wunde. Dabei biss er die Zähne zusammen, unterdrückte den Schrei, der sich mit aller Macht aus seiner Kehle Bahn brechen wollte. Scheiße, tat das weh. Nun konnte er die Kameraden verstehen, die selbst bei einer kleinen Wunde jammerten wie ein Kind. Erwin zog den Gürtel aus der Uniform, legte ihn sich ums Bein und zog ihn so stramm, dass ihm ein Schmerzensschrei entwich. So würde hoffentlich die Blutung aufhören. Das Knattern der Geschosse entfernte sich immer weiter. Hoffentlich schafften es seine Kameraden zurück zur Staffel, damit sie von ihm berichten konnten. Sonst war er geliefert. Er versuchte, sich zu entspannen und zu warten.
Aber er wartete eine gefühlte Ewigkeit.

Langsam brach die Dämmerung über ihn herein. Wie lange lag er schon hier? Und wie sollte er die Nacht überstehen? Er müsste sich ein Jägerbett gegen die Bodenkälte bauen, um nicht zu erfrieren, aber wie sollte er das in diesem Zustand bewerkstelligen? Er schaufelte noch mehr Laub heran und bettete es auf sich. Seine Augen wurden schwer, doch er durfte auf keinen Fall einschlafen. Womöglich wachte er dann nicht mehr auf.
Als es fast zu schwer wurde, seine Augen offen zu halten, musste er an Frida denken. Wann würde sie von seinem Tod in Kenntnis gesetzt werden? Würde sie erfahren, dass er einsam in einem Wald gestorben war? Eine eiskalte Hand legte sich um sein Herz. Er tastete nach dem Foto und rief sich ihr Gesicht in Erinnerung. Wie schön sie war. Wie gern hätte er sie noch ein letztes Mal gesehen, ein letztes Mal in die Arme geschlossen und ihre weichen Lippen gekostet. Die Lider wurden schwer. Nicht einschlafen, Erwin. Ansonsten wirst du Frida nicht mehr wiedersehen.

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